Altes und neues Theater in Cuba
von Peter May
Alicia Alonso (Foto aus Granma Internacional)
Fidel Castro wurde oft nachgesagt, dem Musischen gelte nicht unbedingt sein Hauptinteresse – was z.T. auch zutreffen mag. Was er aber auf jeden Fall früh schon hatte, war das Gespür für die Bedeutung der Kultur und wie wichtig diese für das gesellschaftliche Leben ist. So ist überliefert, daß er im Jahre 1958 in seinem Versteck in der Sierra Maestra einen Brief an die damals bereits weltberühmte kubanische Primaballerina Alicia Alonso schrieb und ihr anbot, nach dem von ihm als selbstverständlich betrachteten Erfolg der Revolution das kubanische Nationalballett zu leiten. Alonso, die sich gerade auf Welttournee befand, zögerte keinen Augenblick, sich für ihr Heimatland zu entscheiden und so leitet die inzwischen fast 90-jährige Grand Dame des Balletts seit nunmehr einem halben Jahrhundert dieses bedeutende Institut. Es gibt eigentlich keinen größeren Gegensatz als den zwischen der Kunst des klassischen Balletts und den Idealen einer sozialistischen Revolution: bekanntlich war Ballett vom sog. „Sonnenkönig“ Louis XIV als Unterhaltung der Könige erfunden worden und immer etwas für diese Elite geblieben. Daß beides dennoch miteinander vereinbar ist, beweist die wunderbare Alicia Alonso.
Nun ist aber Cuba nicht, wie viele von gegnerischer Propaganda beeinflusste Menschen meinen, entweder ein großes Gefängnis oder andererseits nur ein einziges riesiges Tropicana-Cabaret. In diesem Land gibt es neben der Hochkultur auch ein reges kulturelles Leben, das keineswegs nur auf sozialistisch-pädagogisches Theater beschränkt ist. Die kubanische Avantgarde-Szene gehört zu den spannendsten in Lateinamerika und darüber hinaus. Als Doyenne – sozusagen die Mutter des kubanischen neuen Theaters -kann man die großartige Flora Lauten bezeichnen, die Leiterin des legendären „Teatro Buendía“. Sie hat eine Generation von Theaterleuten geprägt und gefördert, u.a. Carlos Celdrán, der inzwischen seine eigene Gruppe, das „Teatro Argos“, betreibt. Seine Inszenierung von Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ war sensationell. Kraftvoll und doch leicht und gefühlsbetont, spannend pfiffig und schnell gespielt mit der Spontaneität guten Studententheaters. Carlos Díaz, der sein „Teatro El Público“ in dem stillgelegten „Cinema Trianon“ betreiben kann, inszenierte z.B. Arthur Millers „Hexenjagd“ und er kann dort ungestört proben und spielen – selbst ein offen homosexuelles Stück blieb unbeanstandet. Die politische Führung steht der Kunstfreiheit also keineswegs so engstirnig gegenüber wie oft behauptet. Die große Flora Lauten verbindet die europäische und die afrikanisch-kubanische Kultur in einer einzigartigen Symbiose, z.B.in der atemberaubenden Inszenierung von Shakespeares „Der Sturm“ am Teatro Buendía, einem Karneval aus Körpern, Schreien, Licht und Trommeln, der den Zuschauer in einen Rausch von Faszination mitreißt. Das Teatro Buendía präsentiert seine Arbeiten auf vielen internationalen Festivals, so etwa eine Produktion „La vida en rosa“, die Geschichte eines berühmten Mordfalles, in der Lauten hinter der romantisierenden Story ein Spiegelbild der Gegenwart zeichnet von ausländischem Kapital, Tourismus und Prostitution. Die Regisseurin Nelda Castillo zeigte in ihrem Theater „El Ciervo Encantado“ die Geschichte des kubanischen Dichters Severo Sarduy, der in Paris an Aids starb: „Woher kommen die Sänger?“, eine Aufführung von gespenstischer, rebellischer Kraft – tief verstörend und bewegend. Auch Castillo hat wie Celdrán am Teatro Buendía gelernt.
Es gilt also festzuhalten: Die gängigen Kuba-Klischees von Sonne, Musik und Tanz, von Rum, Zigarren und hübschen Mädchen sitzen zwar tief im Bewusstsein unbedarfter Reisender – aber dieses Land hat eben auch noch mehr zu bieten: Musik von Klassik bis Jazz und Rap, Literatur, bildende Kunst und eine höchst lebendige, kreative Theater-Szene.
(Peter May ist Schauspieler und Autor, Mitglied bei Cuba Sí Hamburg und dem Hamburger Forum für Völkerverständigung und weltweite Abrüstung)